Im Kopf des Patienten

Weil der Hirntumor eines Patienten nah am Sprachzentrum sitzt, wird er dem Mann bei vollem Bewusstsein entfernt. Für Eingriffe dieser Art mussten die Menschen in der Region früher nach München. Jetzt sind sie in Augsburg möglich

Der Eingriff, der an diesem Tag im OP-Plan des Universitätsklinikums Augsburg (UKA) eingetragen ist, ist kein gewöhnlicher: In Saal 4 steht auf der einen Seite der Lafette der Neurochirurg, der sich gerade den Weg zum Hirntumor eines männlichen Patienten freischneidet. Seitlich von ihm sitzen Anästhesist und Fachärztin. Beide sprechen mit dem Mann: „Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich gut? Ist Ihnen warm genug?“ Der 46-Jährige, inzwischen wach genug, um die Fragen zu beantworten, versucht, sein Wohlbefinden mit Kopfnicken zu bestätigen. Anästhesist Dr. Tobias Bröcheler legt ihm die Hand auf den Arm: „Bitte versuchen Sie zu sprechen, Herr Müller* (*Name geändert). Ihr Kopf wurde für die OP fixiert, Sie können ihn nicht bewegen. Es ist wichtig, dass Sie mit uns sprechen“, sagt er mit behutsamer Stimme. „Es geht mir gut“, antwortet der Patient relativ klar und deutlich. Dann beginnt Neurochirurg und leitender Oberarzt Dr. Ehab Shiban mit der Resektion des dreieinhalb Zentimeter großen Tumors, der sich seitlich im linken Stirnhirnbereich am motorischen Sprachzentrum befindet. Für Shiban zählen ab jetzt zwei Dinge: Das kranke Gewebe möglichst vollständig entfernen. Die Lebensqualität für den Patienten sichern durch den Erhalt seiner Sprachfähigkeit. Deshalb muss der Patient während dieses Teils der OP wach sein.Permanent wird sein Sprachvermögen getestet. Dr. Ina Konietzko lässt den Patienten in einfachen Sätzen Dinge benennen, die in regelmäßiger Abfolge auf ihrem Tablet erscheinen. Wird das zu anstrengend, unterhalten sich Ärztin und Patient über alltägliche Dinge. Wird die Sprache des Patienten undeutlich oder langsamer, legt der Operateur eine Pause bei der Tumorresektion ein.

Aus insgesamt acht Personen besteht das Ärzte-Pflege-Team, das diesen Eingriff durchführt. Es ist der zweite dieser Art am UKA. Vor zirka vier Wochen hatte Dr. Shiban einen Patienten mit ähnlicher Diagnose. Es ist ein sogenannter hirneigener Tumor nahe dem Sprachzentrum. Leider ist die Prognose derzeit noch schlecht, Tumore dieser Art sind nicht heilbar. Zu ein paar mehr Jahren Lebenszeit verhelfen sie den Patienten dennoch. Und die Hoffnung, dass auch gegen diesen Krebs ein Medikament gefunden wird, besteht immer. Weltweit erkranken drei bis vier Menschen auf 100.000 Einwohner. Dabei scheint Gott auf grausame Art und Weise zu würfeln. Denn warum gerade die Patienten diesen Hirntumor bekommen, weiß im Moment noch niemand. „Wir machen diese OP nicht um jeden Preis“, sagt Dr. Shiban. „Merken wir, dass dem Patienten die Worte zwar auf der Zunge liegen, er sie aber nicht mehr aussprechen kann, brechen wir ab. Der Erhalt der Sprachfähigkeit ist dann für den Patienten wichtiger.“

Hirntumoroperationen sind oft ein Balanceakt. Auf der einen Seite ist gerade bei hirneigenen Tumoren das Resektionsausmaß entscheidend für die Prognose. Wird der Tumor komplett entfernt, ermöglicht dies dem Patienten ein längeres Überleben. Andererseits dürfen bei der Operation wichtige Nervenbahnen und Hirnstrukturen nicht verletzt werden. Deshalb kommen in der modernen Neurochirurgie verschiedene Hilfsmittel und Überwachungsmöglichkeiten zum Einsatz: Bei der Neuronavigation handelt es sich um ein computergestütztes Verfahren, das unter vorher angefertigter Kopf-CT- oder Kopf-MRT-Bilder eine räumliche Orientierung im Gehirn des Patienten während des Eingriffs ermöglicht.

Des Weiteren können bösartige Tumore, so genannte Glioblastome, „zum Leuchten“ gebracht werden. Hierzu muss der Patient einige Stunden vor der OP ein Medikament trinken. Die enthaltene Aminosäure 5-Aminolävulinsäure (5-ALA) wird von den Tumorzellen aufgenommen und zu einem Metaboliten verstoffwechselt, der unter Blaulicht pinkfarben leuchtet. So kann der Chirurg beim Operieren mit dem Mikroskop Krebsgewebe gut von gesundem Gewebe und sicherstellen, dass nur krankes Gewebe möglichst vollständig entfernt wird. In Fällen, in denen die Fluoreszenz keinen eindeutigen Hinweis auf erkranktes Gewebe erkennen lässt, kann zusätzlich mittels intraoperativem Ultraschall die weitere Entfernung ermöglicht werden. Diese Methode wird von Dr. Björn Sommer, der das Team der Neurochirurgie seit April verstärkt, etabliert.

Mit dem intraoperativen Neuromonitoring (IOM) kann die Funktionstüchtigkeit verschiedener Strukturen des Nervensystems überprüft werden. Je nach Lage des Tumors im Gehirn kann zum Beispiel die Überwachung des Gehörs, der Augen-, Gesichts-, Schlund- oder Kehlkopfmuskulatur versorgender Nerven sinnvoll sein. Die Verletzung eines dicken motorischen Nervenfaserbündels, auch Pyramidenbahn genannt, könnte eine Halbseitenlähmung zur Folge haben. Um dies zu vermeiden, ist ein permanentes Monitoring der Pyramidenbahn mittels motorisch evozierter Potenziale erforderlich. Hierbei werden kleinste Stromstöße zum Beispiel über Elektroden in der Kopfhaut ans Gehirn abgegeben und die über das Rückenmark bis in die Arm- oder Beinmuskulatur fortgeleiteten Antwortpotenziale gemessen.

Dr. Ina Konietzko und Dr. Florence Choumin von der Neurochirurgie am UKA haben wesentlichen Anteil daran, dass das intraoperative Neuromonitoring seit nunmehr einem Jahr bei Operationen an Gehirn und Rückenmark regelmäßig zum Einsatz kommt und wichtige nervale Strukturen standardmäßig überwacht werden.

Nur für die Sprache gibt es auch nach neuestem Stand der Forschung noch keine technischen Überwachungsmöglichkeiten. Um das Sprachvermögen während einer OP zu testen, muss der Patient wach bleiben. Mit aller Kraft setzte sich Dr. Shiban gemeinsam mit seinen Kollegen dafür ein, Hirntumoroperationen am wachen Patienten auch am UKA durchführen zu können. So fand im März 2020 die erste erfolgreiche Wachkraniotomie in Augsburg statt.

Nach einer Stunde hat Dr. Shiban den Tumor komplett entfernt, insofern ist die OP ein voller Erfolg. Er bedankt sich beim Team und sagt noch: „Die Pflege am UKA ist top, das kenne ich auch anders“, bevor er zur nächsten OP eilt. Die OP-Schwestern Jasmin Hoffmann und Birgit Bayer fangen an zu zählen: Eins, zwei, drei… Kompressen, Bauchtücher, Hirnwatten, zehn von jedem. Blutgetränkt oder ungebraucht, Hauptsache vollständig. Dann kommen die Instrumente dran, bevor Dr. Konietzko beginnt, die Hirnhäute zu vernähen und den zuvor ausgesägten, etwa sieben Zentimeter Durchmesser großen Knochendeckel wieder mit dem Schädel des Patienten zu verbinden. Anästhesist Dr. Bröcheler hat diesen längst wieder schlafen geschickt. „Ja“, bestätigt Bröcheler auf Nachfrage, „das ist bei solch einem Eingriff schon die besondere Herausforderung, den Patienten möglichst punktgenau wieder in den Wachzustand zu holen. Anästhesist und Chirurg bilden bei jeder OP ein Team. Aber hier geht es einmal mehr um ein perfektes Zusammenspiel von Schmerztherapie, Eingriff und Notfallmanagement. Zu jedem Zeitpunkt muss sichergestellt sein, dass der Patient keine Schmerzen hat und sich geborgen fühlt.“ Deshalb habe er zu Patienten wie diesem im Vorfeld eine besondere Beziehung hergestellt.

Insgesamt dauert die OP etwas mehr als drei Stunden, was zum einen an einer intensiven Vorbereitungszeit des Anästhesisten mit dem Patienten liegt. Zum anderen aber an der allein halbstündigen Lagerungszeit des Patienten, dessen Kopf in einer sogenannten Kopfzwinge verschraubt wird, dass ein Verrutschen selbst im Nano-Millimeter-Bereich ausgeschlossen ist, wie Pflege-Teamleiterin Inge-Marie Stamp erklärt.

Im OP-Saal zeigt sich einmal mehr die für die Behandlung komplexer Tumorerkrankungen notwendige Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachdisziplinen. Ein bis zwei Wochen nach der Operation wird ein Expertengremium in einer eigens dafür eingerichteten Besprechung – der Tumorkonferenz – unter Berücksichtigung des Gewebebefundes und der Tumorausdehnung die weitere Therapie des Patienten festlegen. Das Interdisziplinäre Cancer Center Augsburg (ICCA) am UKA stellt dann den Kontakt zu niedergelassenen Krebstherapeuten her und koordiniert die weiterführende Therapie in unterschiedlichen Fachrichtungen. Das ICCA fungiert als überregionale Anlaufstelle für alle Krebspatienten, unabhängig davon, ob sie bereits behandelt wurden oder mit einer Neuerkrankung konfrontiert sind. Es nimmt an internationalen Studien teil und unterhält selbst eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen.

Am Ende scheint nur einer etwas enttäuscht zu sein: Dr. Klaus-Henning Kahl, leitender Oberarzt der Strahlenklinik, betreut den 46-jährigen Patienten in einer internationalen Multicenter-Studie, die die untersucht, ob die Behandlungsergebnisse von Menschen mit genau dieser Erkrankung durch eine intraoperative Bestrahlung zusätzlich zur ohnehin vier Wochen nach Operation erforderlichen Radiochemotherapie verbessert werden. Im Rahmen dieser Therapiestudie werden die teilnehmenden Patienten in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe wird nach dem neuen Therapieansatz mit zusätzlicher intraoperativer Strahlentherapie behandelt, die andere erhält den aktuell gültigen Therapiestandart ohne intraoperative Bestrahlung. Welcher Patient in welche Gruppe eingeteilt wird, entscheidet nach dem Zufallsprinzip der Computer, um jegliche Einflussnahme von Seiten der Ärzte zu unterbinden. Die Randomisierung geschieht während der OP. In diesem Fall wird der Patient der Kontrollgruppe zugeordnet. „Schade“, sagt Kahl, „ich hätte mich gefreut, wenn er in die Therapiegruppe gekommen wäre. Es wäre weltweit der erste Patient gewesen, der bei einer Wachoperation intraoperativ bestrahlt worden wäre.“