Bis zu 1000 krebskranke Kinder aus der Ukraine auf der Flucht

An der Kinderklinik Augsburg | Mutter-Kind-Zentrum Schwaben werden vier krebskranke Kinder aus der Ukraine behandelt. Wir sprachen mit einer Familie, die getrennt aus Saporoschie fliehen musste. Im Interview erklärt Prof. Dr. med. Dr. med. Michael Frühwald, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, warum es so wichtig ist, die krebskranken Kinder schnell weiter zu behandeln.

Victoria, 34, und Jewgeni, 41, steht die Anspannung noch ins Gesicht geschrieben. Das Ehepaar ist auf getrennten Wegen aus Saporoschie, der sechstgrößten Stadt der Ukraine, geflohen. Victoria mit der neunjährigen Alina, die einen Hirntumor hat, kam mithilfe einer kirchlichen Organisation und Freiwilligen am 7. März in der Kinderklinik Augsburg | Mutter-Kind-Zentrum Schwaben am UK Augsburg an. Jewgeni ist mit der sechsjährigen Xenia im Privatauto geflohen und kam gestern in Augsburg an. Er erzählt, dass er sich noch lange relativ sicher in Saporoschie gefühlt hat, bis das dortige Atomkraftwerk unter russischen Beschuss geriet. 1000 Kilometer sind es bis zur polnischen Grenze. Er und seine Tochter standen in einem hunderte Kilometer langen Stau von Flüchtenden. Pro Tag kamen sie 200 Kilometer weit. Zum Schluss war Xenia nur noch apathisch, erzählt er. Victoria war mit Alina wegen deren Erkrankung in einem Krankenhaus in Kiew, als der Krieg ausbrach. Sie begaben sich mit einem Konvoi auf die Flucht, in dem insgesamt 14 onkologische Patienten mit Begleitpersonen mitfuhren. Weil der mit einem roten Kreuz gekennzeichnet war, wurden sie durchgewunken, erzählt Victoria. Nachrichten schauen beide im Moment absichtlich nicht, erzählen sie. Victoria ist anfangs jedes Mal zusammengezuckt, wenn Christoph 40, der Rettungshubschrauber am Universitätsklinikum Augsburg, ankam oder wegflog. Das Geräusch, erzählt sie, zwingt ihre Gedanken jedes Mal zurück in die Heimat. Mit ihren Eltern, die in Saporoschie geblieben sind, steht sie im engen Kontakt. Gestern sei die Stadt unter Raketenbeschuss geraten, das Haus der Eltern habe gewackelt. Inzwischen wurde Alina von PD Dr. med. Ehab Shiban, Direktor (komm.) der Klinik für Neurochirurgie, in der Kinderklinik bereits operiert. Sie ist eines von drei weiteren krebskranken Kindern aus der Ukraine.

Wie viele krebskranke Kinder sind aus der Ukraine an der Uniklinik Augsburg bisher eingetroffen, Prof. Frühwald?

Frühwald: In Bayern haben wir unter den sechs Standorten des Kinderonkologischen Netzwerks Bayern (KIONET) in der letzten Woche 24 Kinder aus der Ukraine verteilt. Am schwäbischen Kinderkrebszentrum wurden bisher vier Kinder aufgenommen. Wir rechnen aber mit noch deutlich mehr. Aktuell befinden sich bis zu 1000 krebskranke Kinder aus der Ukraine auf der Flucht. In einem einzigartigen Netzwerk der Europäischen Kinderonkologien werden diese Kinder jetzt betreut und nahtlos weiterbehandelt.

Wissen Sie, wie die Kinder nach Augsburg gekommen sind? Waren alle in Begleitung ihrer Familien?

Frühwald: Alle Kinder wurden von ihren Müttern und zum Teil einem Geschwisterkind begleitet. Nur eines war in Begleitung seines Vaters. Zwei der Kinder kommen aus der Nähe von Kiew, eines aus der Stadt Saporoschie und eines aus der Millionenmetropole Charkiw. Sie alle sind über Lwiw (Lemberg) nach Görlitz und Würzburg verteilt worden. Großartig unterstützt hat die Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München, die auch eine Dolmetscherin und psychologische Begleitung organisiert hat. KIONET hat über eine WhatsApp-Gruppe der leitenden Kinder- und Jugendonkologen der sechs Uniklinika die Logistik gesteuert. KIONET ist eine hervorragend funktionierende Struktur, die sich immer wieder bewährt.

In welchem Zustand sind die Menschen?

Frühwald: Man sieht den Menschen das Leid an. Sie sind ja doppelt traumatisiert von der Krebserkrankung und der Flucht vor dem Krieg. Man sieht, dass sie eine lange und beschwerliche Reise hinter sich haben. Manche Kinder waren dehydriert, einige sehr verängstigt.

Welche Erkrankungen haben die Kinder?

Frühwald: Drei der bislang bei uns aufgenommenen Kinder haben einen ZNS-Tumor, also einen Tumor des Zentralen Nervensystems, der seinen Ursprung im Gehirn oder im Rückenmark hat. Ein Kind leidet an einer malignen Langerhans-Zell-Histiozytose, einer bösartigen Tumor-Systemerkrankung, die auf einen Immundefekt zurückgeführt wird. Die aktuellen Geschehnisse in ihrem Land sind ohnehin schon traumatisch für die Kinder.

Kann eine unterbrochene Krebstherapie ohne Probleme weitergeführt werden?

Frühwald: Sie muss sogar so schnell wie möglich fortgeführt werden, da die Heilungsraten zu einem nicht unerheblichen Teil von der zeitgerechten Verabreichung von Medikamenten abhängen. Ganz einfach ist die Weiterführung der Therapie aber auch so nicht, da erst die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Dazu gehören möglichst genaue Informationen über die bisherige Therapie, das Einsetzen eines zentralen Venenzugangs für die Chemotherapie, ausreichend neue und gute Bilder für eine etwaige Operation – bei uns wurde ein Mädchen bereits drei Tage nach Ankunft neurochirurgisch operiert – und vor allem ein körperlicher Zustand, in dem eine Therapie möglich ist.

Kennen Sie den Therapie-Standard in der Ukraine?

Frühwald: Nun, der ist nicht ganz so hoch wie bei uns, aber sicher ausreichend, um moderne Medizin zu machen. Leider sind nur zirka 30 Prozent der Kinder gegen COVID-19 geimpft. Meist sind die Kinder sehr gut operiert und werden nach europäischen oder nord-amerikanischen Therapievorbildern und zum Teil auch in Studien behandelt. Ein Junge zum Beispiel wurde bereits nach einem von meiner Arbeitsgemeinschaft hier in Augsburg entwickelten Therapieprotokoll behandelt.

Krebstherapien sind in der Regel sehr teuer. Wie kann die Finanzierung der Behandlung der geflüchteten Kinder sichergestellt werden?

Frühwald: Wenn die Kinder registriert sind, kann auch eine Versicherung zur Notfallbehandlung in Deutschland erfolgen. Dazu gibt es einen Erlass des Bundesgesundheitsministeriums. Da viele zusätzliche Belastungen auf die Familien zukommen wie Wohnungs- und möglicherweise Jobsuche, Handyverträge und ähnliches sind wir auf Spenden angewiesen. Hier kommt das Benefizspiel der Augsburger Panther genau zu rechten Zeit. Unter dem Slogan „Fight Cancer“ wird der AEV am Sonntag für Kinder mit Krebs spielen und hier natürlich unsere ukrainischen Schützlinge mitbedenken.

Was passiert nun mit diesen Menschen, können Sie alle an sichere Orte gebracht werden?

Frühwald: Sicher sind sie jetzt erst einmal bei uns auf der Station, nachdem sie den Krieg Putins und seiner menschenverachtenden Schergen hinter sich gelassen haben. Unsere Kollegen vom Psychosozialen Dienst sind gemeinsam mit den staatlichen Stellen auf der Suche nach Unterkünften und Absicherung für den Lebensunterhalt sowie nach Kontakten zu den in der Ukraine verbliebenen Vätern und zum Teil Geschwistern. Diese Kinder sind ja nicht nur vom Krieg, sondern auch von einer lebensbedrohlichen Erkrankung betroffen. Mein Team und ich kämpfen nun jeden Tag eben auch um das Leben dieser Kinder.