Albtraum nach dem Aufwachen - Akutes Delir nach schweren Operationen

Plötzlich verwirrt

Als postoperatives Delir oder akutes Delirium (aus dem Lateinischen mit »aus der Spur geraten« zu übersetzen) bezeichnet man eine vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns nach großen Operationen oder schweren Erkrankungen. Als Risikofaktor gilt ein hohes Lebensalter, aber auch jüngere Menschen können betroffen sein. Ein Delir lässt sich nicht im Blut oder im CT nachweisen, es zeigt sich durch plötzliche Verwirrung, Störungen des Denkvermögens, zeitliche und räumliche Desorientiertheit und Sinnestäuschungen der Patienten – sie »sehen« Dinge, oft weiße Tiere. Manche Betroffene sind sehr irritiert, unruhig und aggressiv (hyperaktives Delir), andere so verängstigt und in sich gekehrt, dass sie nicht mehr aufstehen wollen (hypoaktives Delir). Viele beschreiben diesen Zustand später als Alptraum, der von der Realität nicht zu unterscheiden war und den nur sie wahrgenommen haben. Meistens treten die Symptome zwischen dem zweiten und siebten Tag nach der Operation auf und dauern drei bis vier Tage an, sie können sich aber auch länger hinziehen. Im Gegensatz zur Demenz ist das Delir durch seinen akuten Beginn sowie einen wechselnden Verlauf gekennzeichnet und bildet sich meistens wieder völlig zurück. Andererseits erhöht es das Risiko, eine Demenz zu entwickeln oder zu verstärken.

Der Schreck nach dem Eingriff war fast größer als die Sorge vor der großen Operation: Kaum stand Silvia V. am Bett ihres frischoperierten Mannes auf der Intensivstation, wollte er das Krankenhaus sofort verlassen. »Er sagte, komm, schnell raus hier«, erinnert sie sich. Ludwig V. hatte Angst, dass die Zimmerdecke einstürzen könnte. In seiner Wahrnehmung schwebte sie nämlich direkt auf ihn zu. Als die Ehefrau den 76-Jährigen beruhigen und ablenken wollte, wurde er zunehmend wütend. Warum erkannte sie die Gefahr nicht auch? »Eine typische Szene für den Beginn eines akuten Delirs«, kommentiert Dr. Philipp Deetjen, Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Universitätsklinikum Augsburg. »Der Patient, die Patientin erkennt Freunde und Familie, führt ein normales Gespräch und sagt im Anschuss etwas völlig Sinnloses.« Manche ziehen ihre Infusionsschläuche heraus, rufen immer wieder nach Hilfe und empfinden die fremde Umgebung als bedrohlich. Das Delir, eine ernste postoperative Organfunktionsstörung, kann 30 bis 50 Prozent der Intensivpatienten betreffen.

Die Ursachen für diese Komplikation sind vielfältig. »Es gibt einen Zusammenhang mit dem Entzündungsgeschehen im Körper nach großen Eingriffen oder sehr schweren Erkrankungen«, erklärt Dr. Deetjen. Ebenso können zahlreiche Vorerkrankungen und auch bestimmte Medikamentengruppen, die den Hirnstoffwechsel beeinflussen, das Auftreten eines Delirs begünstigen. Die früher Durchgangssyndrom genannte und einst als psychiatrische Erkrankung verstandene Komplikation ist keine neue Erscheinung. »Aber,« so der Facharzt für Anästhesiologie, »es gibt heute mehr große chirurgische Eingriffe. Und die Patienten werden älter.« Mit den Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin entwickelte sich in den letzten Jahren ein neues Bewusstsein für die Behandlung deliranter Patienten. Seit zwei Jahren gibt es am Universitätsklinikum Augsburg eine entsprechende Arbeitsgruppe aus Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten.

EINE WICHTIGE ROLLE IN DER DELIR-THERAPIE SPIELEN DIE ANGEHÖRIGEN.

Schnell aus dem Bett und in Bewegung kommen

Für Katharina Kemmether, Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege im Klinikum, können »effektive Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs nur im multiprofessionellen Team erfolgen.« Sie ist in der AG unter anderem für die Schulung der Pflegekräfte zuständig und hat den Delir-Standard auf der Intensivstation mitentwickelt. Aktivierung und frühe Mobilisierung der Intensiv-Patienten stehen dabei im Mittelpunkt. Gemeinsam mit den behandelnden Ärzten prüfen die Pflegekräfte, welche Risikofaktoren der Patient mitbringt. »Schon im Vorfeld lassen sich so Flüssigkeitsmängel behandeln, kritische Medikamente reduzieren oder ersetzen und die Anästhesie anpassen«, erläutert Dr. Deetjen.

 

DAMIT DIE PATIENTEN NACH EINER NARKOSE SO BALD WIE MÖGLICH IN DIE REALITÄT ZURÜCKFINDEN, SOLLEN SIE SCHNELL AUS DEM BETT UND IN KÖRPERLICHE UND GEISTIGE BEWEGUNG KOMMEN.
Dr. Philipp Deetjen

Nach dem Eingriff wird auf den operativen Intensivstationen ein tägliches Delir-Screening durchgeführt, bei dem die Pflegekräfte bestimmte Kriterien abfragen, um eventuelle Denkstörungen frühzeitig zu erkennen. Eine ausreichende Schmerztherapie steht auf dem Behandlungsplan, zudem wird für einen geregelten Schlaf-Wach-Rhythmus gesorgt. Am Fußende jedes Krankenbetts ist eine Tafel für Datum und Uhrzeit angebracht. Auch Familienfotos finden hier einen Platz.

»Damit die Patienten nach einer Narkose so bald wie möglich in die Realität zurückfinden«, so Anästhesist Deetjen, »sollen sie schnell aus dem Bett und in körperliche und geistige Bewegung kommen.« Hilfsmittel wie Brille und Hörgerät sollten rasch wieder auf- und eingesetzt werden. »Es sind diese Kleinigkeiten, die eine große Wirkung haben können.«

Eine wichtige Rolle in der Delir-Therapie spielen die Angehörigen. Mit ihrer Anwesenheit, mit ruhigen Gesprächen, Vorlesen und einfachen Spielen tragen sie ein Stück vertraute Sicherheit ins Krankenzimmer. Auch für sie hat die Arbeitsgruppe nun eine Informations- und Aufklärungsbroschüre zum Thema verfasst. »Eine gute Idee«, finden Silvia und Ludwig V. Seine OP-Narbe ist inzwischen verheilt – die schwebende Decke bleibt unvergessen.

 

Wie Angehörige nach der OP helfen können:

  • häufige Besuche
  • Patienten geistig auf Trab halten, z. B. durch Gedächtnisspiele
  • Orientierungshilfen geben: Kalender und Uhr immer in Sichtweite
  • Brille, Hörgerät oder Gebiss nach der OP schnell wieder benutzen
  • mit Fotos, Musik, Lieblingsspeisen Erinnerungen wecken

Sie haben Fragen?

Ihr/e Ansprechpartner/in steht Ihnen über unten stehende Kontaktdaten für Fragen zur Verfügung.

Dr. med. Philipp Deetjen

Facharzt für Anästhesiologie

Zusatzbezeichnung Notfallmedizin
Zusatzbezeichnung Intensivmedizin


E-Mail: philipp.deetjen@uk-augsburg.de

Hinweis

Dieser Artikel erschien zu erst in der Ausgabe 4/2020 des Gesundheitsmagazins "GESUNDHEIT ganz groß". Die gesamte Ausgabe finden Sie als PDF-Datei zum nachlesen hier: Ausgabe 4/2020.